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Keine Viertelstunde dauerte die Routine, dann begann eine 15 Stunden lange Odyssee. Um 6.01 Uhr Ortszeit am 29. Oktober 1972 war die Lufthansa-Boeing 727 „Kiel“ zum Flug LH-615 in Beirut gestartet und hatte gerade die Reiseflughöhe von 9000 Metern auf dem Weg zum nächsten Zwischenstopp in Ankara erreicht. Da stürmten plötzlich zwei junge Männer zum co*ckpit.
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„Es war zehn Meilen nördlich von Zypern, als ich ein Geräusch hinter mir hörte, mich umdrehte und direkt in eine Pistolenmündung blickte“, schilderte Flugkapitän Walter Claussen, was dann geschah: „Hinter mir stand ein Araber, der den Flugingenieur sofort in die Kabine drängte, die co*ckpittür verschloss und erklärte: ,Ich bin der neue Kapitän.’“
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Der Mann, offensichtlich ein Araber, zog aus seiner Jacke eine Handgranate und erklärte in aller Ruhe, dass er und sein Kamerad noch einige Sprengkörper bei sich hätten. Seine erste Forderung lautete: Claussen sollte den nächstgelegenen Flugplatz ansteuern und dort die Maschine volltanken. Der Kapitän landete in Nikosia (Zypern). „Dort ging alles unproblematisch über die Bühne. Die Terroristen befahlen mir, in Richtung Deutschland zu fliegen.“
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Claussen musste die Maschine allein steuern, denn sowohl Co-Pilot Gerd Maier als auch Flugingenieur Jürgen Schröder wurden wie die Flugbegleiter, Petra Kuß, Konstanze Marx, Maja Meincke und Jakobus Abrahams im Heck der Maschine von dem anderen Terroristen festgehalten. Dort saßen auch die elf richtigen Passagiere, darunter der spanische Journalist Salvador Salazar Camón, ein Redakteur der Nachrichtenagentur Efe. Um 8.42 Uhr startete die 727 in Nikosia wieder und flog Richtung Nordwest, genau Kurs München.
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Die Täter drohten per Funk, die Boeing in der Luft zu sprengen, wenn nicht die drei in bayerischen Gefängnissen einsitzenden überlebenden Terroristen, die am 5. September 1972 die israelische Olympia-Mannschaft in München überfallen und elf Sportler getötet hatten, umgehend freigelassen und ausgeflogen würden.
Bereits seit dem 9. September waren wiederholt Drohungen in München und in Bonn eingegangen, die genau eine solche Erpressung ankündigten. Doch trotzdem waren die Bundesregierung und das bayerische Kabinett wieder nicht auf einen solchen Fall vorbereitet. Eilig wurden zwei Krisenstäbe eingerichtet, die sich aber angesichts der Herausforderung als völlig hilflos erwiesen.
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Gegen 12.15 Uhr kreiste die „Kiel“ über München-Riem. Die Entführer verlangten, dass die drei Häftlinge nach der Landung direkt zu ihrer Maschine gebracht würden, damit sie zusammen mit Geisel zu einem unbekannten Ort fliegen könnten. Die Münchner Polizei jedoch teilte mit, die „Kiel“ müsse von der Landebahn weg zu einem Abstellplatz rollen. Um 12.42 Uhr verkündeten die Terroristen daraufhin: „Wir fliegen zurück nach Zagreb und tanken noch einmal auf.“
Drei Minuten später, genau um 12.45 Uhr, traf eine Nachricht des deutschen Botschafters in Tel Aviv Jesco von Puttkamer beim Auswärtigen Amt in Bonn ein. Die israelische Regierung erwarte, hieß es darin, den „Pressionen der Entführer nicht nachzugeben“. Denn „nach München würde es die israelische Regierung nicht verstehen, wenn die drei Inhaftierten freigegeben würden“.
Trotzdem bereiteten Bayerns Behörden mit Einverständnis der Bundesregierung den Austausch vor: Die drei Terroristen wurden aus ihren Zellen nach München-Riem gebracht. Dort stiegen sie mit Lufthansa-Chef Herbert Culmann in ein Geschäftsreiseflugzeug der Condor und starteten um 15.47 Uhr. Die Piloten hatten Weisung, den Luftraum der Bundesrepublik nicht zu verlassen, bevor es zu einer Einigung mit den Entführern gekommen sei.
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Weil die Terroristen der entführten 727 jedoch drohten, die Maschine in der Luft zu sprengen, setzte sich Culmann über diese Weisung hinweg: Er befahl den Piloten, deren oberster Chef er war, nach Südosten zu fliegen und in Zagreb zu landen; um 16.52 Uhr setzte die Maschine dort auf. Sieben Minuten später landete auch die „Kiel“. Die entführte Lufthansa-Boeing nahm die freigepressten Palästinenser auf, die Geiseln mussten an Bord bleiben. Doch starten konnte die „Kiel“ vorerst nicht, denn ihre Tanks waren vollkommen leer – Claussen war nach einem erzwungenen Durchstarten mit den letzten Tropfen Kerosin gelandet.
Auf Druck aus Bonn weigerte sich der Flughafen Zagreb, die Maschine aufzutanken. Daraufhin wiederholten die Terroristen ihre Drohung, die 727 in die Luft zu sprengen. Daraufhin entschied Kurt Laqueur, Generalkonsul der Bundesrepublik in Zagreb, entgegen der Haltung des Bonner Krisenstabes zu handeln und Kerosin für die Maschine freizugeben (und aus Mitteln des Auswärtigen Amtes zu bezahlen).
Um 18.50 Uhr startete Claussen, inzwischen total erschöpft und eigentlich fluguntauglich, die 727 und steuerte sie sicher Richtung Rom. Nach 65 Minuten passierte die „Kiel“ die italienischen Hauptstadt und ging auf Südkurs, Richtung Tripolis. In der libyschen Hauptstadt landete er um 21.05 Uhr. Nach ziemlich genau 15 Stunden gaben die beiden Entführer und ihre drei freigepressten Kumpanen die 18 Geiseln an Bord frei; sie flogen am kommenden Tag nach Frankfurt zurück.
Israel hatte bereits während der Entführung mit Empörung auf das Nachgeben reagiert. Es handele sich um eine „unverständliche deutsche Kapitulation“, die eine „Ermunterung zu neuen Verbrechen“ sei und „vom jüdischen und vom israelischen Standpunkt aus unverzeihlich“, fasste Botschafter von Puttkamer die Stimmung in Tel Aviv zusammen.
Am folgenden Tag wurde er offiziell ins israelische Außenministerium einbestellt und zurechtgewiesen. „Israelische Regierung versteht die Haltung der deutschen Regierung nicht und bittet um Aufklärung über einen offensichtlichen Gesinnungswechsel“, meldete er im Telegrammstil nach Bonn: „Die Kapitulation vor den Terroristen in der Nacht zum Montag sei mit der bisherigen deutschen Einstellung nicht zu vereinbaren.“
Schon zwei Tage später kam in israelischen Zeitungen die Spekulation auf, es habe sich gar nicht um eine „echte“ Flugzeugentführung gehandelt, sondern um eine vorher abgesprochene Aktion. Bonn habe sich der drei überlebenden Täter des Münchner Anschlags entledigen wollen. Als Indizien wurden damals die geringe Zahl der Passagiere an Bord der „Kiel“ angeführt und die Eile des Austausches; hinzu kamen seither einige seltsam formulierte Weisungen der Münchner der Polizei und der bayerischen Landesregierung, die schon vor dem 29. Oktober 1972 einen möglichen Austausch andeuteten.
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Jesco von Puttkamer berichtete am 1. November 1972 aus Tel Aviv: „Die Behauptung, die Bundesregierung sei in Wahrheit froh, die Terroristen los zu sein, und die noch weitergehende Behauptung, es lag ein abgekartetes Spiel entweder der Lufthansa oder offizieller deutscher Stellen mit den Terroristen vor, findet immer weitere Verbreitung.“ Daran hat sich im Verlauf der Jahrzehnte nichts geändert.
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Das Protokoll des Funkverkehrs zwischen der entführten Maschine und dem Condor-Jet mit Culmann an Bord, die Telegramme in den Akten des Auswärtigen Amtes und die Aussagen des Flugkapitäns Claussen bei einer Pressekonferenz am 30. Oktober dokumentieren jedoch zweifelsfrei: Auf deutscher Seite war schlicht Chaos ausgebrochen. Irgendeine Planung, eine lenkende Hand war damals nicht erkennbar und zeigt sich auch in den seither umfassend freigegebenen Behördenakten nicht.
Die entscheidenden Schritte zum Austausch trafen vielmehr jeweils entgegen klarer Anweisungen aus Bonn der Lufthansa-Chef und der Generalkonsul vor Ort. Gegen Culmann wurde deswegen sogar ein Strafermittlungsverfahren eröffnet, doch er verteidigte sich, aus seiner Sicht habe ein „übergesetzlicher Notstand“ vorgelegen, der seine Handlung gerechtfertigt habe; die Staatsanwaltschaft folgte ihm. Laqueur musste sich einem innerbehördlichen Disziplinarverfahren stellen und wurde anschließend als stellvertretender Botschafter in die Schweizer Hauptstadt Bern abgeschoben – alles andere als eine Beförderung.
Da es auch sonst nie irgendein konkretes Indiz für eine fingierte Entführung gab, kann man diese Spekulation getrost verwerfen. Selbst die seltsam klingenden Sätze aus bayerischen Akten erklären sich zwanglos, wenn man den Kontext berücksichtigt und die seit dem 9. September 1972 eintreffenden Drohungen mit einer Freipressungsaktion. „Ohne Culmann und Laquer wäre es zweifelsohne zu einer weiteren Tragödie gekommen“, sagte der israelische Historiker Eitan Marc Mashiah gegenüber WELT. „Auf Grundlage der gesichteten Dokumente“ könne von irgendwelchen Absprachen keine Rede sein.
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